Rezension: “Julchen Grünthal” von Friederike Helene Unger

Rezension “Julchen Grünthal” von Friederike Helene Unger (Photo by freestocks on Unsplash)

Ungers Werk „Julchen Grünthal“ erschien 1784. Ein Werk von einer Frau im 18. Jahrhundert, welchem in der literarischen Bildung in der Gesellschaft bzw. in Schulen wenig bis gar keine Beachtung geschenkt wird. Gemeinsam mit einem Freund und Deutschlernenden kam ich in den Genuss dieses Werk zu lesen und Teil von Ungers Perspektiven zu werden, auch wenn ich sie sicherlich nicht gänzlich erfasst habe bzw. erfassen kann.

In „Julchen Grünthal“ geht es um ein junges Mädchen vom Land, Julchen, die auf Inständigkeit Ihrer Mutter in einer Erziehungsanstalt in der Berliner Großstadt landet. Verständnis hat Julchen dafür nicht und findet sich in einer ihr völlig fremden Welt, komplett allein wieder. Sehr bald stellt sie fest, dass Ihre daheim auf dem Lande gelernten Werte und Prinzipien in der Anstalt und Großstadt Berlin keinen Nutzen für sie haben, ja sogar ausgelacht und abgewertet werden. Schnell versteht sie sich anzupassen, sich zu fügen und zu einer Großstadtdame, oder besser vielleicht Großstadtpüppchen, formen zu lassen. Intellekt und Glaube sind hier fehl am Platz. Vielmehr geht es um das große Reden leerer Worte und das eigene Erscheinungsbild in Kleidung, Frisur, aber auch Haltung und Gestik. Julchen verliert vollends den Bezug zu ihrem Leben auf dem Land, zu ihrer Familie. Ihre Mutter, zu ihren Lebzeiten, bestärkt sie in ihrem Dasein in Berlin. Während der Vater mit allen Mitteln versucht Julchen wieder nach Hause zu holen, sie wieder an ihr Zuhause zu binden und bereut selbst sich von seiner Ehefrau und Mutter Julchen überreden zu haben Julchen nach Berlin zu schicken. Julchen verliert sich selbst weiter, selbst als sie nicht mehr in der Erziehungsanstalt ist, sondern bei Verwandten unterkommt. Sie lässt sich mitreißen, als Püppchen hin- und herschieben von anderen, die Gefallen an ihrer Schönheit hegen.

Ohne an dieser Stelle zu viel vorweg zu nehmen und vielleicht das Ende zu verraten, sei erwähnt, dass dieses Werk, aus meiner Perspektive, sehr schön die Frage nach der Identität der Frau im 18. Jahrhundert adressiert. Selbst heute kann das bis zu einem gewissen Grad immer noch höchst aktuell sein. Wovon ist unsere Identität eigentlich abhängig? In Julchens Fall hat sie bereits als junges Mädchen alles nötige für die eigenen Identitätsentwicklung vermittelt bekommen, doch war zu jung daran außerhalb eines sicheren Umfeldes festhalten zu können. Sie hat sich gefügt, um angenommen zu werden und dafür sich selbst aufgegeben oder zumindest ihre eigene Identität zurückgesteckt. Am Ende, so viel sei gesagt, findet Julchen die Gelegenheit zur Selbstreflexion und -erkenntnis. Sie fragt sich, was sie eigentlich noch hat und wer sie eigentlich ist bzw. wie wenig sie gegenüber anderen ist. Das Werk betont sehr stark die Abhängigkeit der Identität Julchens gegenüber Anderen, sowie auch der gesellschaftlichen Frage, ob es einen Mann an ihrer Seite für ihre eigenen Identität bedarf.

Das Werk beschäftigt sich nebensächlich auch mit der Rolle der Männlichkeit im 18. Jahrhundert und den Wandel, dass z.B. Julchens Vater einsieht keinen Einfluss auf die Entscheidungen und Erfahrungen seiner Tochter haben zu können.

Wer eine Vorliebe für klassische, ausschweifende Literatur hat, ist mit diesem Werk gut versorgt. Es bietet ein Reichtum an deutscher Poetik, Philosophie, Dramatik und Tiefgängen. Das kann ich jedem Liebhaber nur ans Herz legen.

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